Es gibt diesen einen Begriff, der durch die Corona-Diskussionen wabert. Die, die schon mal mit dem Thema zu tun hatten, schaudern bei dem Gedanken. Viele ahnen, dass es dabei um nichts Gutes geht und einige schieben das Thema weit von sich. Die Rede ist von der „Triage“.
Das Thema kam in Bezug auf Corona erstmals im Frühjahr auf, als zum einen ein Infektionsgeschehen zu beobachten war das, wäre es nicht gestoppt worden, innerhalb relativ kurzer Zeit zu einer Überlastung des Gesundheitssystems geführt hätte. Zum anderen wurde die Triage in diesen Tagen in mehreren Nachbarstaaten bzw. einigen besonders betroffenen Regionen. Das ungute Bauchgefühl vieler Laien dürfte hier seinen Ursprung haben. Auch wenn man nicht recht wusste, was hinter dem Begriff steckte, so war die Furcht vieler Mediziner, die dieses Wort in den Medien benutzten, nicht zu übersehen.
Was ist die Triage?
Triage bezeichnet grundsätzlich ein Priorisierungsverfahren, das eigentlich für kurzfristige Katastrophenfälle gedacht ist. Wenn bei einem Ereignis wie einer Massenkarambolage kurzfristig so viele Patienten anfallen, dass nicht allen geholfen werden kann, werden die Fälle nach Schwere kategorisiert. Es gibt dabei in aller Regel drei Abstufungen. Gruppe 1 befindet sich in akuter Lebensgefahr und benötigt dringend medizinische Hilfe. Diese Menschen werden zuerst versorgt. Gruppe 2 ist in einem kritischen Zustand, aber nicht in akuter Lebensgefahr. Wenn man hier mit schnell durchzuführenden Maßnahmen eine weitere Stabilisierung erreichen kann, wird man das tun, ansonsten wird man sich um diese Patienten erst kümmern, wenn die erste Gruppe versorgt ist oder weitere Einsatzkräfte eintreffen. Gruppe 3 teilt sich in zwei Untergruppen auf. Die einen sind zwar verletzt, aber nur so leicht, dass kein dringender Handlungsbedarf besteht. Sie können so lange warten, bis sich die Situation entspannt hat. Im Idealfall können Sie sogar zur Unterstützung des Rettungskräfte eingesetzt werden. Die anderen sind so schwer verletzt, dass ihre Überlebenschance selbst mit einer Behandlung extrem gering sind. Daher sieht man auch hier von einer Behandlung ab und konzentriert die vorhandenen Mittel auf Patienten, bei denen sie (hoffentlich) etwas bewirken.
Diese Situation ist extrem hart für die Retter und insbesondere die Führungskräfte vor Ort, die diese Entscheidungen treffen müssen. Einem Verletzten nicht helfen zu können oder die Entscheidung treffen zu müssen, welcher Patient behandelt wird, bedeutet extremen Stress.
Ich bin im Zivildienst in der Rettungssanitäter-Lehrgang das erste Mal mit dieser Thematik in Berührung gekommen. Der Ausbilder hatte den Einsatz beim ICE-Unglück in Eschede als Retter erlebt und die Art, wie er darüber sprach, machte deutlich, dass er die Erlebnisse auch einige Jahre später nicht verarbeitet hatte.
Was wäre bei einer Corona-Triage anders?
Die Triage ist für kurze Extremsituationen ausgelegt. Es geht primär darum, die Patienten zu finden, die am dringendsten Hilfe benötigen und ihnen die Behandlung zukommen zu lassen. Selbst wenn es im schlimmsten Fall dazu kommt, dass man sich gegen die Behandlung eines Verletzten entscheidet, weil man keine oder nur geringste Überlebenschancen sieht, ist das zeitlich begrenzt. Sollten rechtzeitig mehr Kräfte und mehr Material zur Verfügung stehen, wird man auch das Möglichste tun, um diese Menschen zu retten.
Wenn unser Gesundheitssystem über seine Kapazität belastet würde, wäre diese Kurzfristigkeit nicht gegeben. Wir hätten längerfristig eine Situation, in der nicht genügend Personal und Material bereitstünden, um alle Patienten zu versorgen und gleichzeitig täglich neue schwere Fälle dazu kämen, die intensivmedizinische Betreuung benötigten. Hier würden wir bzw. die Ärzte also tatsächlich in eine Lage kommen, in der es weniger darum geht, denjenigen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie am dringendsten benötigen, sondern die knappen Mittel dort einzusetzen, wo sie am meisten bewirken. Das bedeutet aber auch, immer wieder andere Patienten dauerhaft auszusortieren.
Während ich dieses Text schreibe, ist es zumindest großflächig in Deutschland noch nicht zur Anwendung der Triage gekommen. (Ob einzelne Krankenhäuser in Sachsen bereits in den Tagen vor Weihnachten gezwungen waren, ist aus den Medienberichten nicht eindeutig nachzuvollziehen.) Wir scheinen uns aber kurz davor zu befinden. In den ersten Regionen sind die Kapazitäten zumindest im Intensiv-Bereich erschöpft und die für die Verlegung von Intensiv-Patienten voll ausgelastet.
Kriterien
Es gibt keine festgelegten Kriterien für die Priorisierung der Patienten. Der deutsche Ethikrat hat bereits im Frühjahr angemerkt, dass eine Pauschale Einstufung nach Kriterien wie Alter, Vorerkrankungen oder auch Behinderungen, die sich auf die Überlebenschancen auswirken, nicht verfassungskonform wäre. Auch eine gesetzliche Vorgabe wäre nicht zulässig, da der Staat nicht entscheiden kann, wer leben darf und wer sterben muss.
Gleichzeitig mahnen Experten, dass man den Ärzten einen Leitfaden an die Hand geben muss, um sie nicht immer neu ihren Gewissensqualen zu überlassen und auch um die Rationalität der Entscheidungsgrundlagen zu sichern. Eine Wahrscheinliche Lösung wäre im Moment eine Art Punktwert, der die Überlebenswahrscheinlichkeit der anstehenden Behandlung erfassen soll. Das heißt, je gebrechlicher der Patient ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, nicht behandelt zu werden. (Allerdings kann ein junger Mensch mit Vorerkrankungen durchaus schlechtere Chancen haben, als ein fitter Senior.)
Musste das sein?
Wie an verschiedenen Punkten ist auch hier das Ärgerliche, dass es nicht so weit kommen musste und dass der Verlauf von den seriösen Wissenschaftlern (und der Kanzlerin) ziemlich akkurat vorhergesagt wurde. Während andere noch Intensivbetten zählten und vor sich hin orakelten, dass es ja nie so weit kommen würde, hätte man sich mit Oberstufen-Mathematik aus dem Grundkurs durchaus errechnen können, wann wir an die Grenze stoßen.
Das Problem wurde angelegt, als wir im Frühsommer unter dem Druck der Laschets, Kretschmanns und Lindners die Maßnahmen lockerten, statt noch ein Bisschen länger durchzuhalten und die Infektionen auf einen Stand zu drücken, auf dem eine individuelle Nachverfolgung der Infektionsketten wieder möglich gewesen wäre. Danach wurden den Sommer über Werte geduldet, die eigentlich zu hoch waren und nur durch die saisonalen Effekte nicht zu einem explosiven Anstieg der Zahlen führten und schließlich wurde im Herbst rund zwei Monate zu lange den steigenden Graphen zugesehen, statt die Entwicklung zu unterbrechen.
Selbst wenn man morgen einen extrem harten Lockdown ansetzen würde, wäre die Wirkung erst in zehn bis vierzehn Tagen zu spüren. Dabei ist erstmal mit einer Erhöhung der Infektionszahlen durch die Weihnachtsfeierlichkeiten zu rechnen. Wie repräsentativ die zahlreichen Berichte über nicht-eingehaltene Sicherheitsmaßnahmen sind, ist aktuell schwer zu sagen, die Bilder aus Ski-Gebieten im In- und Ausland geben eher wenig Anlässe zur Hoffnung, man hätte aus dem Desaster 2020 gelernt.
Auch in Sachen Schule sprechen jetzt schon wieder mehr Politiker davon, den Präsenzunterricht nach den Ferien wieder aufzunehmen, als davon, wie man ihn zumindest noch eine Weile überbrücken könnte, bis uns das Wetter und die hoffentlich schnell steigende Impfquote eine Erleichterung verschaffen.
Beides wird aber dauern. Vorbehaltlich weiterer Impfstoffzulassungen oder einer Ausweitung der Produktion mit Hilfe von anderen Herstellern (die im Moment scheinbar nicht mal ernsthaft diskutiert wird, obwohl es die einfachste Lösung wäre), wird Deutschland bis Ende März nur ca. 10. Millionen Impfdosen erhalten. Damit wären 5 Millionen Menschen geimpft, nahezu ausschließlich Personen über 80 Jahren und Pflegepersonal.
Das dürfte die Mortalität etwas senken, führt aber bei weiterhin hohen (wenn nicht u.a. durch den neuen Virenstamm aus England bald wieder steigenden) Infektionsraten zu zu keiner großen und schnellen Entlastung der Krankenhäuser und bis wir auf Saisonbedingte Effekte hoffen können, dürfte es sogar noch länger dauern.
Bis dahin wäre es also an jeder Einzelperson, alles zu tun, die Verbreitung des Virus zu verhindern und eine Überlastung unseres Gesundheitssystem (vielleicht noch) zu verhindern oder zumindest so kurz wie möglich zu halten. Abgesehen davon sollte man die letzten 12 Monate sehr genau analysieren und sich überlegen, welchen Politikern ein rationales Vorgehen bei anderen Herausforderungen und Bedrohungen der Zukunft zuzutrauen ist.
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