Eigentlich wollte ich zum Thema Corona bis auf weiteres nichts mehr schreiben. Die Fronten sind relativ klar, die Rollen verteilt. Die Covidioten spielen die immer gleichen Platten mit Scheinargumenten, die angeblich seriösen Rechten zeigen Verständnis (aber versuchen den Eindruck zu vermeiden, selbst Aluhüte zu tragen). Das ist hier im Blog so, wie draußen in der freien Wildbahn. Problematisch ist, dass wir dabei die Diskussion noch immer (und wie bei vielen anderen Themen) mit wirklichkeitsverzerrenden Begriffen führen.
Wir hatten im Frühjahr keinen Lockdown
Um das Problem deutlicher zu umreißen, sollten wir uns zunächst mal klar machen, was ein Lockdown ist. Dabei reden wir von einer Ausgangssperre. Sämtliche Aspekte des Lebens werden so weit wie irgendwie möglich heruntergefahren. Verschiedene europäische Nachbarländer hatten im Frühjahr tatsächlich Phasen, die man mit gutem Recht als Lockdown bezeichnen kann. Da wäre Italien. Belgien hatte im Sommer vergleichbare Maßnahmen. Großbritannien verhängte gerade in den letzten Tagen drastische Verschärfungen.
Wir dagegen hatten im Frühjahr recht weitgehende Kontaktbeschränkungen. Viele Betriebe, bei denen dies möglich war, wechselten ins Home-Office. Andere gingen in Kurzarbeit. Allerdings lieben viele Betriebe im produzierenden Gewerbe auch einfach weiter. Große Probleme hatten (damals wie heute) viele selbstständige Dienstleister, Handel und Gastronomie, die ohne Kundenkontakt nur schwer arbeiten können und bei denen die mit großem Trara angekündigten Hilfen viel zu oft stark verspätet oder auch gar nicht ankommen.
Wir haben jetzt erst recht keinen Lockdown
Was in der ersten Jahreshälfte galt, gilt noch viel mehr ab Herbst. Auch wenn in den Medien durch das häppchenweise Nachlegen von Maßnahmen der Eindruck entstanden ist, wir würden unter weit verschärften Bedingungen leben, ist das Gegenteil der Fall. Bis zu den (leicht vorgezogenen) Weihnachtsferien waren die Schulen offen und das, obwohl die Idee, Kinder wären weniger infektiös schon immer auf wackeligen Beinen stand und mittlerweile (teils bewusst zurückgehaltene) Studien nahelegen, dass Schulen einen wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen haben. (Alles andere wäre auch verwunderlich, wenn dort hunderte Menschen aus verschiedenen Haushalten zusammenkommen und dann wieder in ihre Familien zurückkehren-)
Aber nicht nur das. Der Anteil der Menschen, die im Home-Office arbeiten, hat sich im Vergleich zum Frühjahr ziemlich genau halbiert. Kurzarbeit wird praktisch nur noch dort betrieben, wo die Auftragslage es nötig macht. Der Großteil der Menschen fährt ganz normal zur Arbeit, als wäre nichts (teilweise in vollbesetzten öffentlichen Verkehrsmitteln), und sitzt mit mehreren Menschen in einem Büro (das häufig sogar ohne Maske). Viele Menschen machen das nicht freiwillig, sondern können es sich nicht leisten, ihre Anstellung zu verlieren.
Haare spalten?
An dieser Stelle wird gern eingeworfen, dass Diskussionen wie diese Erbsenzählerei seien und diese Begriffe sich eben eingebürgert hätten. Letzteres mag sein, ist aber ein Problem. Sprache formt das Bewusstsein. Durch die Salamitaktik der Politik und die begleitende Berichterstattung hat sich das Bild verfestigt, wir hätten aktuell einen Lockdown, wenn man die Verschärfungen über die letzten Wochen anschaut gar keinen harten Lockdown. Mehr ginge ja kaum. Und genau aufgrund dieser inflationären Verwendung der Begriffs müssen jetzt Wortungetüme wie der „Mega-Lockdown“ geschaffen werden, um Schritte in Richtung (möglicherweise tatsächlich wirksamer Maßnahmen) zu beschreiben.
Wirksamkeit wäre das, was wir so langsam in den Mittelpunkt stellen sollten. Seit den verfrühten Lockerungen im Frühjahr stabilisieren wir immer nur die Infektionen auf zu hohem Niveau und ziehen die Dauer der Einschränkungen damit immer weiter in die Länge, weil wir einen Punkt, der ein echtes verantwortungsvolles Zurückfahren der Maßnahmen erlauben würde, nie erreichen. Die frühere Piraten-Politikerin und heutige Grüne Marina Weißbrand twitterte vor knapp drei Wochen:
Wenn die diesen halben, unwirksamen Lockdown einfach nur weiter verlängern, dreh ich irgendwann am Rad.
Ich mach gerne mit bei harten Maßnahmen, die Infektionszahlen senken und normales Leben ermöglichen.
Aber dieser halbgare Mist ist wirklich das schlechteste aus beiden Welten.— Marina Weisband (@Afelia) December 30, 2020
https://platform.twitter.com/widgets.js
Und damit hat sie Recht! Um die Wirtschaft zu schützen scheut die Politik vor wirksamen Maßnahmen zurück, zieht die Situation dadurch in die Länge, was wiederum gigantische wirtschaftliche und soziale Kosten mit sich bringt. Während in anderen Ländern, die schneller und entschlossener reagiert haben, das Leben (mindestens zeitweise) wieder normal läuft, wurschteln wir uns in einer Dauerschleife, die absehbar erst enden kann, wenn durch Impfungen eine Herdenimmunität erreicht ist. Und das wird, selbst wenn die verfügbare Impfstoffmenge deutlich steigt, noch Monate dauern.
Keine Überraschungen
Dabei ist, was jetzt passiert, nicht überraschend. So ziemlich alle seriösen Wissenschaftler hatten diesen Verlauf prognostiziert. (Und mit „seriös“ meine ich jene, die nicht sich nicht von einem ehemaligen Bild-Redakteur einspannen ließen, um einem inkompetenten Ministerpräsidenten und seit gestern CDU-Vorsitzenden die politisch gewollten Aussagen zu verschaffen, während die Datenerhebung kaum angefangen hatte.)
Es war klar, dass die Infektionszahlen im Frühjahr noch nicht weit genug gesunken waren, um eine flächendeckende Nachverfolgung der Infektionsketten zu ermöglichen. Es war abzusehen, dass die trotz warmer Temperaturen den ganzen Sommer über auf einem Plateau verbleibenden Werte uns im Herbst wieder einholen würde. Es war erwartbar, dass die halbärschigen Maßnahmen im Herbst nur minimale Wirkung zeigen würden, weil sie viel zu wenige Menschen betrafen. (Diejenigen, die es betrifft, haben allerdings tatsächlich mit harten Einschränkungen zu kämpfen, die sich immer weiter in die Länge ziehen.)
Feigheit vor dem Freund
Eine andere Twitter-Userin schrieb vor einigen Tagen (exemplarisch für andere Kommentare mit ähnlicher Zielrichtung):
Bevor Deutschland Homeoffice-Pflicht einführt, werden wir noch aufgefordert, Personen aus den eigenen Hausstand nicht mehr zu treffen.
— Brienne of Tarte. (@dielilly) January 15, 2021
https://platform.twitter.com/widgets.js
Ein Anderer (den ich gerade leider nicht mehr finde) unkte, man würde wohl eher die Zahl der erlaubten privaten Kontakte auf -1 absenken, bevor man Einschränkungen für die Wirtschaft beschließt. Bei aller Launigkeit treffen beide Beiträger leider ziemlich ins Schwarze. Es fehlt in großen Teilen der Politik jede Erkenntnis, dass uns das Rumeiern jetzt schon viel gekostet hat und weiter teuer zu stehen kommen wird. Man erspart“ der Wirtschaft“ unterm Strich nichts, im Gegenteil.
Trotzdem kann man sich etwa beim Thema Home-Office nicht zu mehr als Apellen durchringen. Nachdem solche Ansprachen oder freiwillige Selbstverpflichtungen bei anderen Thema (Klimawandel grüßt erneut) so wunderbar funktioniert haben, kann jetzt ja eigentlich nichts mehr schief gehen, oder?
Die deutsche Politik gibt in diese Angelegenheit ein erbärmliches Bild ab. Das hat sich auch bei der letzten Runde der Corona-Gipfel nicht geändert. Die Druckerschwärze auf den Zeitungen, die von den vereinbarten Maßnahmen berichteten, war noch nicht trocken, als die ersten Landesregierungen schon wieder laut über Sonderregelungen (Abschwächungen, versteht sich) nachdachten.
Noch überhaupt nicht angekommen zu scheint scheint etwa, dass wir seit einigen Wochen von einem neuen deutlich infektiöserem Virenstamm wissen, der zunächst in Großbritannien isoliert wurde. Dieser neue Typ scheint sich doppelt so schnell zu verbreiten, wie die bisher bekannte Variante. Da hilft es auch nicht zu betonen, die Mutation sei nicht gefährlicher, als die Alte. Schnelle Verbreitung bedeutet mehr Infizierte. Mehr Infizierte bedeuten mehr schwere Fälle und das bei einem Gesundheitssystem, das bereits stellenweise nah an der Volllast läuft. (Abgesehen davon, dass man mittlerweile dazu übergegangen zu sein scheint, besonders alte und gebrechliche Patienten gar nicht mehr intensivmedizinisch zu betreuen.)
Was die Kultusminister in den letzten Wochen dargeboten haben, war nicht weniger peinlich. Ziemlich offensichtlich geht es vor allem um die Aufbewahrungsfunktion der Schule, damit die Eltern arbeiten können. Von denen, die jetzt am lautesten um die Bildungschancen benachteiligter Kinder weinen, haben sich die Wenigsten in den letzten Jahren bemüht, diese zu verbessern.
An dieser Stelle ein kleiner Exkurs: In der rechten Blase und auch bei deren Vertretern hier im Blog werden diese Umstände gerne als persönliches Versagen von Angela Merkel interpretiert. Das ist gleich doppelt bizarr. Richtig ist sicher, dass auch die Bundesregierung früher und entschlossener hätte handeln müssen. Das hätte in der ersten Phase die Weichen stellen und viel Ärger ersparen können. Das ist die eine Seite. Wie weit die Landesfürsten diesem Weg gefolgt wären, ist eine andere Frage und nicht zuletzt hat sich das Wissen um das Virus in den letzten 12 Monaten exponentiell erweitert.
Aber Angela Merkel ist nicht die „Chefin“ der Ministerpräsidenten oder Landesregierungen und im letzten Jahr hat sich immer wieder gezeigt, wie wenige die Bundesregierung allein bewirken kann, wenn es um Themen geht, die nicht in ihrer Kompetenz liegen (wie z.B. Schulschließungen, während Bildungspolitik Ländersache ist).
Noch wirrer wird es, wenn die gleichen Personen, die stolz verkünden, sich von Angela Merkel nichts sagen zu lassen, ihr mangelnde Führungsstärke und Überzeugungskraft gegenüber der Bevölkerung vorwerfen.
Nur die Kostümprobe
Zwei Aspekte sollten wir zudem nicht vergessen: Dass es zu einer Situation wie heute kommt, ist nicht überraschend oder sollte es zumindest nicht sein. Nicht umsonst spielen Institutionen wie das RKI solche Szenarien immer wieder durch und hatten einen ähnliche Verlauf antizipiert. In den vergangenen Jahrzehnten gab es etwa einmal pro Dekade ein neues Virus, das uns mindestens kurzfristig aufgescheucht hat. (Und leider hat vermutlich die relative Konsequenzlosigkeit vergangener Ereignisse die laxe Haltung vor einem Jahr befeuert.) Es wird auch zukünftig neue Erreger geben, sei es Viren oder Bakterien. (Auch wenn sich mancher gerne über die Wet Markets in China echauffiert: Wir sind mit unserer Art Fleisch zu produzieren gerade dabei, sämtliche bekannte Antibiotika obsolet zu machen und das in einem weit höheren Tempo, als Neue entwickelt werden.)
Zum anderen sollte uns klar sein, das Covid-19 nur eine Kostümprobe für ein wirklich bösartiges Virus ist. Wir hatten Glück! Wir kennen sehr viel ansteckendere und sehr viel tödlichere Viren. Unser Albtraum wäre ein Virus, dass sich rasend schnell verbreitet, infektiös wird, bevor sich Symptome zeigen und das häufig tödlich endet oder schwere langfristige Schäden verursacht. (Der letzte Aspekt wird uns bei Corona vermutlich auch noch erwarten.)
Und so ein Virus wird irgendwo existieren und irgendwann den Sprung auf unsere Spezies schaffen. Ob das morgen, in zehn oder in hundert Jahren geschieht, kann niemand wissen. Aber dass es passieren wird, ist sehr wahrscheinlich.
Pingback: Corona – zum Homo Eeconomicus degradiert | workingmansdeath