Religion aus der atheistischen Perspektive: 3. Religiöse Werte und gute Werke

Auch wenn das Wetter noch immer nicht wirklich winterlich ist und man in manchen Regionen eher frühlingshafte Bedingungen vorfindet, gehe ich mit meiner kleinen Adventsserie „Religion aus der atheistischen Perspektive“ in die dritte Runde.

Im ersten Teil ging es um die grundsätzlichen Funktionsweisen von Religionen, den inhaltlichen Aufbau vieler religiöser Mythen und Schriften, sowie ihre Entstehung und Entwicklung. Auf dieser Grundlage basieren die folgenden Teile der Reihe.
Letzte Woche habe ich mich mit dem Spannungsfeld von Religion und Wissenschaft beschäftigt, das im politischen Alltagsgeschäft einer der beiden wichtigsten Konfliktherde darstellt, weil Erkenntnisse und Methoden der Wissenschaft Inhalte und Anspruch der Religion in Frage stellen, die ihrerseits an verschiedenen Fronten versucht, die Arbeit und den Wirkungskreis der Wissenschaft zu beschränken.

Im heutigen Teil geht es um Religion und Moral, man könnte sagen, dem Kerngeschäft von Religion. Denn was, wenn nicht das (durch höhere Mächte vermittelte) Wissen, was richtig und falsch ist, macht den weltanschaulichen Gestaltungsanspruch von Religionen aus?
Im Mittelpunkt dieses Artikels steht daher die Frage, ob die selbst gewählte Position der moralischen Überlegenheit, mit dem die Vertreter der Religionen ihren gesellschaftlichen Einfluss zu begründen und zu schützen versuchen, berechtigt ist und in welchen Bereichen man auch zu anderen Schlüssen kommen könnte.

Sind Religionen moralisch?

Nahezu jede Religion bringt einen ganzen Katalog an Regeln mit sich, die von alltäglichen Verrichtungen, wie der Feldarbeit oder der Zubereitung von Speisen, über rituelle Handlungen wie Gebete, Opfergaben, Meditation oder Fasten bis zum grundlegenden Fundament des gesellschaftlichen Lebens, wie etwa der politischen und wirtschaftlichen  Organisation bis hin zur Partnerwahl oder Erziehung reicht.

Heutige Gläubige argumentieren nun oft mit den für eine Gesellschaft unverzichtbaren moralischen Grundsätzen, die aus den heiligen Schriften stammen würden. Christen zum Beispiel verweisen an dieser Stelle gern auf die ihrer Meinung nach universal gültigen zehn Gebote oder etwa die Bergpredigt. Muslime können an dieser Stelle noch auf die Abgaben für die Armenspeisungen verweisen, die den heutigen Sozialsystemen in ihrer Grundlage nicht mal unähnlich sind. Auch andere Glaubensgemeinschaften punkten hier mit gelegentlich durchaus sinnvollen Vorgaben. Allein, diese Lesart ist recht einseitig.

Die rassistisch motivierten „Analysen“ der so genannten Islamkritiker haben gezeigt, dass man in einem religiösen Mythos auch genau das Gegenteil lesen kann, wenn man sich ausschließlich auf entsprechende Stellen stützt bzw. Passagen entsprechend der gewünschten Interpretation deutet. Man muss allerdings nicht mal mit dem Gleichnis vom Splitter und dem Balken kommen, um anzumerken, dass exakt das gleiche Vorgehen bei der Bibel ohne Probleme möglich wäre. Auch das „gute Buch“ lässt sich zu einer nicht weniger hasserfüllten Essenz zusammenkochen, wenn man das möchte.
Die Sichtweise der Gläubigen, zumindest jener, die ihre Religion im Diskurs vertreten und verteidigen, ist im gleichen Maß ein Tunnelblick, in dem die Teile ausgeblendet, negiert oder relativiert werden, die dem positiven Bild der eigenen Religion zuwiderlaufen, unabhängig ob es sich dabei um das Selbstbild handelt, oder doch eher um die Sorge um die Außendarstellung.

Selbst bei der wohlwollendsten Interpretation muss man sich fragen, inwieweit es sich denn tatsächlich noch um Christentum, Islam, Judentum etc. handelt (ich bin mir an dieser Stelle der ethnozentristischen Sichtweise bewusst), wenn man sich aus dem jeweiligen Mythos nur die Teile herauspickt (bei Menschen, die sich allgemein als „spirituell“ bezeichnen, auch gerne aus verschiedenen Mythen), die in das eigene Weltbild passen, das sich (unbewusst) aus ganz anderen Quellen speist. Doch dazu später mehr.

Wichtig aber ist: man kann beides aus den Mythen heraus lesen. Und die Dogmatiker, je nach Perspektive und politischer Agenda dann auch Extremisten genannt, tun das auch. Nicht nur Selbstmordattentäter rechtfertigen ihre Handlungen mit dem Mythos, genau so wurde in den letzten Wochen an verschiedenen Stellen über „Erziehungsratgeber“ aus den USA diskutiert, in denen das Schlagen der Kinder sogar empfohlen wurde, mit Hinweisen auf die entsprechenden biblischen Passagen. Historisch ließen sich andere Beispiele finden. So wurde die Sklaverei in England und den USA etwa genau so sehr mit biblischen Belegen kritisiert (vor allem von den Quäkern), wie sie von den Befürwortern mit Belegen aus der Bibel verteidigt wurde.

Die Vorgaben einer Religion können auch nach unseren heutigen, weitgehend von der Aufklärung bestimmten Maßstäben, moralisch sein. Aber ebenso, wie es aus religiöser Perspektive richtig sein kann, einem Armen einen Platz zum Schlafen und ein warmes Essen zu geben, kann es aus religiöser Sicht einwandfrei sein, den ersten Sohn zu opfern, konvertierungsunwillige Ungläubige abzuschlachten oder zu versklaven.

Aber noch unabhängig davon, kranken die meisten „übernatürlichen“ Wertekanons an den gleichen Problemen.

Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.

Wie bereits im ersten Teil der Reihe beschrieben, sind religiöse Mythen auf die Gesellschaft und die Lebensumstände, unter denen sie geschaffen werden, zugeschnitten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sie unter anderen Bedingungen nur noch eingeschränkt anwendbar sind und funktionieren.
Da sich dogmatische Lehrsätze aber eben gerade nicht anpassen oder relativieren lassen (sollen), liegt hier ein zentrales Konfliktfeld. So sehr sich einige Religionen auch an neue Umgebungen angepasst haben, allein die von anderen Kulten übernommenen Feiertage im Christentum wären eine eigene Kolumne wert, so schwer tun sie sich mit anderen Gesellschaftsentwürfen.
Ebenfalls im ersten Teil wurde darauf hingewiesen, dass man durchaus davon ausgehen darf, dass die Urheber der Mythen ihre Inhalte mit guten Absichten verfasst haben und nur das Beste für ihre Gesellschaften wollten. Gleichzeitig muss man sich aber auch klar machen, dass sich diese Autoren auf dem intellektuellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Stand der Bronzezeit bis zur Antike befinden.

In kaum einem Feld des täglichen Lebens würde man sich eine solche „Rückständigkeit“ gefallen lassen. Einem Mediziner, der auf dem technischen Stand der 50er Jahre operiert, würde man sicherlich vom Tisch springen.
In einer Werkstatt, die sich an den Standards von Henry Fords Zeiten orientiert, würde kaum jemand sein Auto lassen wollen. Wenn aber jemand anhand eines rund 2000 bis 6000 Jahre alten Textes Verhütung, Homosexualität und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern nicht nur für sich verneint, sondern auch fordert, genau das zum Fundament gesellschaftlicher Strukturen zu machen, soll das selbstverständlich toleriert werden.

Welche Werte sind wertvoll?

Dass es religiöse Gebote gibt, die unserem Wertekanon widersprechen bzw. die unsere moralische Entwicklung hinter sich gelassen haben, wurde in den letzten Abschnitten gezeigt. Daneben gibt es allerdings auch Regeln, die zwar der Moral nicht zuwider laufen, aber kaum universelle Gültigkeit beanspruchen können. Als Beispiel sollen an dieser Stelle die zehn Gebote dienen.
Etwas pointierter hat sich der verstorbene Komiker und Skeptiker George Carlin dieses Themas angenommen.

1. Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Nun, der erste Nebensatz richtet sich bereits offensichtlich ausschließlich an den Volksstamm der Israeliten. Allerdings ist das Gebot als Ganzes auch zu nichts anderem zu gebrauchen, als andere Religionen vom Markt der Weltanschauungen auszuschließen und wenn überhaupt nur für Angehörige der jeweiligen Religion(en) relevant.

2. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

Auch dieses Gebot ist nur für Gläubige der entsprechenden Religionen relevant, widerspricht sogar deutlich den Gepflogenheiten in vielen anderen Glaubensgemeinschaften, in denen die optischen Darstellungen von Göttern (Geistern und Ahnen) sogar im Zentrum der religiösen Praxis stehen.
Was man aber sicher sagen kann, ist dass dieser Abschnitt die Freundlichkeit der Religion bzw. ihres transzendenten Urhebers deutlich in Frage stellt. Was auch erklären könnte, warum diese Passage in aktuellen Bibeln nur noch in entschärfter Version zu finden ist. Im katholischen Katechismus kommt sie übrigens nicht mehr vor.

3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.

Wenn es um eine allgemeingültige Ethik geht, wären wie hier bei Streichkandidat Nr. 3 angekommen.

4.  Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

Hier kann man den Geboten sogar mal einen Punkt zugestehen, denn auch heute ergibt es Sinn, einen Tag zu haben an dem, wenn schon nicht alle, aber ein Großteil der Menschen nicht arbeiten muss. Für den Erhalt von sozialen Verbindungen und das Ermöglichen gemeinsamer Aktivitäten, nicht notwendigerweise religiöser Natur, kann das kaum überschätzt werden.

5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.

Respekt vor dem Alter kann man grundsätzlich befürworten, wobei einerseits ein grundlegender Respekt ja eigentlich jedem Menschen zustehen sollte und man sich andererseits alles, was darüber hinausgeht, verdienen muss.

6. Du sollst nicht töten

Hieran gibt es grundsätzlich nichts auszusetzen. Man kann aber anmerken, dass die Regelung von den Religionen (auch denen, die auf dem alten Testament beruhen) selbst nie sonderlich ernst genommen wurde, wenn es um Bestrafungen oder etwas Menschen, die and andere (oder keine) Götter glauben ging.

7. Du sollst nicht ehebrechen.

Auch hier kann man den Geboten durchaus zubilligen, dass stabile Familienverhältnisse in einer Gemeinschaft wünschenswert sein können. Problematisch wird es aber natürlich in dem Moment, wo jede Form der Sexualität außerhalb der Ehe, sogar jedes Denken an Sexualität außerhalb des Ziels der Fortpflanzung (ja, ich meine euch, liebe Katholiken) verdammt wird.

8. Du sollst nicht stehlen.

9. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

Auch hier kann man kaum widersprechen. George Carlin übrigens schlug vor, die letzten 4 Gebote als „Du sollst ehrlich zu deinen Mitmenschen sein“ zusammen zu fassen. In der Essenz hätten wir dann zwei, mit dem freien Tag pro Woche drei Gebote, die unabhängig von der Religionszugehörigkeit gesellschaftlich Sinn ergeben. Aber wie sieht es denn mit der Urheberschaft der Religionen in diesen Fällen aus?

Gibt es originär religiöse Werte?

Die Behauptung, die religiösen Schriften seien die ersten, die überhaupt Regeln für das Zusammenleben formuliert hätten, ist nicht neu. Es ist mir tatsächlich in Diskussionen bereits passiert, dass man mir nahe bringen wollte, dass das Leben vor den zehn Geboten ausgesehen hätte wie in Sodom und Gomorra. Wörtlich.
Das ist natürlich Unsinn. Wenn wir, beim Beispiel der zehn Gebote bleibend, die Gebote ansehen, die in einer Gesellschaft tatsächlich hilfreich sind, dann stellen wir im gleichen Moment fest, dass sie auch für eine Gemeinschaft essenziell sind.

Mit anderen Worten: Ein Zusammenleben von Menschen ist nicht möglich, wenn man jederzeit fürchten muss, von einem der anderen Gruppenmitglieder getötet oder bestohlen zu werden. Ohne ein (zumindest gruppeninternes und weiter gingen ja auch die religiösen Varianten nie) Tötungsverbot und einen Respekt vor dem privaten Besitz des anderen, kann eine Gruppe nicht existieren. Vertrauen oder auch nur Arbeitsteilung wären nicht möglich.
Auch dass der Respekt vor den Alten gehört, zumindest in der Entstehungszeit der Gebote, zählt ebenfalls zu diesen essenziellen Regeln, denn die Alten waren als Träger und Vermittler sämtlicher Kulturtechniken für das Überleben der Gemeinschaft unersetzlich.

Natürlich gibt es tatsächlich Vorgaben, die rein religiöser Natur sind. Die ersten drei der zehn Gebote wären als Beispiel zu nennen. Nur sind diese Gebote gesellschaftlich weitgehend irrelevant und spätestens für Nicht-Gläubige ohne jeden Belang.
Anders ist es bei den so genannten „christlichen Werten“, die in den letzten Jahren vermehrt von Konservativen und Kirchenvertretern für sich reklamiert werden. Darunter sind Ideen wie die Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit oder gar Demokratie. Wenn man nun als historisch interessierter Mensch diese Liste durchgeht, kann man eigentlich nur staunen, mussten doch in Folge der Aufklärung viele dieser Errungenschaften gerade gegen den erbitterten Widerstand der religiösen Autoritäten erkämpft werden.

Sind Atheisten weniger moralisch als Gläubige

An dieser Stelle befinden wir uns mitten in den Grabenkämpfen der Diskussionen um Religion. Auch in den Kommentaren zu den ersten beiden Artikeln war zu lesen, dass die in einer weitgehend säkularisierten Welt aufgewachsenen Generationen (man könnte auch sagen, die Jugend von heute) weniger moralisch wären und dass genau das Fehlen der Religion der Grund sei.
Auch die Verbrechen des Nationalsozialismus und kommunistischer Regime als Beispiele für „atheistische Verbrechen“ durften selbstverständlich nicht fehlen. Aber auch wenn es auf den ersten Blick für manchen Verteidiger des Glaubens erstrebenswert erscheint, ein Gegengewicht für die Verbrechen der Kirchen und Religionen aus dem Ärmel schütteln zu können, verfangen diese Beispiele nicht.
Denn zum einen fanden beide Vorgänge auf dem Fundament von religiös geprägten Gesellschaften statt, zum anderen wurden die religiösen Strukturen oft weiter genutzt, indem die bisherigen Autoritäten zur Legitimation der neuen „Führer“ genutzt wurden und im Personenkult neue quasireligiöse Strukturen aufgebaut wurden (das ging bei den Nationalsozialisten bis zum Gebrauch von Stilmitteln aus der Kirchenmusik).

Das alles sind aber letztendlich Nebelkerzen. Im Kern geht es an dieser Stelle um die Frage, warum sich jemand moralisch verhält. Ist es, weil er dieses Verhalten rational als richtig ansieht, weil er (frei nach dem Kantschen Imperativ) sich anderen gegenüber so verhält, wie er selbst behandelt werden möchte, weil sein Verhalten dem Zusammenleben der Gemeinschaft dient oder weil er sich vor einer Strafe durch höhere Mächte fürchtet? Oder einer Mischung aus mehreren dieser Gründe?
Alle diese Gründe sind bis zu einem gewissen Grad egoistisch. Es geht nicht zuletzt auch um die Verbesserung der eigenen Situation, sei es im Jetzt und Hier oder im Jenseits. Im Sinne einer universalen Moral haben die rationalen Erklärungsansätze den Vorteil, nicht vom Glauben an eine bestimmte höhere Macht abhängig zu sein.

Da Gläubige wie Atheisten gleichsam moralisch handeln, letztendlich sogar aus ähnlichen Motiven heraus, könnte man von einem Unentschieden sprechen. Das Potenzial, sich aufgrund des Glaubens bzw. Nicht-Glaubens unmoralisch zu verhalten, ist aber für einen religiösen Menschen ungleich höher.
„Gute Menschen tun gute Dinge, böse Menschen tun Böses. Aber damit ein guter Mensch etwas Böses tut, braucht es die Religion“. Dieser Satz des bekannten, nicht ganz unproblematischen Skeptikers Sam Harris ist so natürlich nicht haltbar, trotzdem bietet Religion, gerade aufgrund der fehlenden Hinterfragbarkeit und den geringen Möglichkeiten für Anpassung und Korrektur ein hohes Gefahrenpotenzial. Natürlich können sich auch Atheisten unmoralisch verhalten, nicht zuletzt, weil viele Ideologien, gerade wenn ihnen viel Bedeutung im Leben eingeräumt wird und sie zum Kern des Weltbildes werden, inhaltlich irgendwann nicht (mehr) hinterfragt werden. Nicht-Gläubigkeit schützt sicher nicht davor, schließt aber immerhin eine Möglichkeit aus.

Religion kann sicher ein Vehikel, vielleicht sogar ein Katalysator für moralisches Handeln sein. Sie erleichtert theoretisch die Vermittlung von Normen, weil die Quelle der Regeln als höhere Macht nicht hinterfragbar ist. Allerdings liegt auch gerade darin die Gefahr, dass unmoralisches Handeln und unmoralische Regeln nicht überprüft werden.
Eine Quelle der Moral ist Religion allerdings nicht, da sie keine allgemeingültigen Gebote neu geschaffen hat, sondern nur ohnehin Essenzielles aufgenommen und eventuell umformuliert hat.

In letzten Teil dieser Reihe werde ich mich am kommenden Sonntag an den großen Fisch wagen: Gott höchst selbst? Gibt es ihn eigentlich und was ist von ihm zu halten? Bis dahin wünsche ich einen entspannten Sonntag.

Religion aus der atheistischen Perspektive:

27.11. (1. Advent) Teil 1: Genese einer Religion
04.12. (2. Advent) Teil 2: Religion und Wissenschaft
11.12. (3. Advent) Teil 3: Religiöse Werte und gute Werke
18.12. (4. Advent) Teil 4: Gott

15 Antworten zu “Religion aus der atheistischen Perspektive: 3. Religiöse Werte und gute Werke

  1. Danke, lieber Thorsten Beermann 😉

    Übrigens, die 10. Gebote sind auch nur geklaut – Die Israeliten sollen die von den ersten Gesetzestexten ihrer heidnischen Vorgänger übernommen haben – dem sogenannten „Codex Hammurapi“.

    Was die Kritik am Atheismus angeht, die teile ich nur bedingt – man sollte evtl. auch von weltlichen Religionen sprechen, z.B. die toten Religionen des Kommunismus und des Nationalsozialismus, die von der neuen neoliberalen Marktreligion beerbt wurden, die imaginäre „Märke“ verehrt wie einst Christen und Moslems „Gott“ bzw. „Allah“.

    Es scheint übrigens auch eine Koevultion von Religionen – in Teilstaaten Afrikas, wie in einem Beitrag hier erwähnt, zwischen Naturreligionen und missionarischem evangelikalem Christentum geben, d.h. diesen Aspekt gab es wohl zu allen Zeiten, wovon die Vorgänge in Kamerun nur die aktuellsten derzeit sind.

    Gruß und noch einmal danke für den vortrefflichen Text
    Bernie

    PS: Ich wies bereits auf die Reihe „Ohne Gott ist alles erlaubt“ hin – hier noch einmal eine Folge davon: http://hpd.de/node/11820.

  2. Hier noch etwas über den „Codex Hamurabi“ – http://hpd.de/node/4467

    Wie bereits von dir erwähnt, um Humanist zu sein bedarf es keinen religiösen Glaubens, sondern einfach nur – im positiven Sinne – Mitmenschlichkeit. Übrigens hätte ich zur Entstehung des Glaubens einen Buchtipp – ein atheistischer Autor, und Evolutionsbiologie, der beweist, dass auch Glauben – egal ob an Gott oder an einen „himmlischen Silberrücken“ (Zitat: Der Philosoph und Agnostiker Michael Schmidt-Salomon, Autor von „Anleitung zum Seligsein“) – wohl letztendlich evolutionär entstanden sein dürfte – Der Titel des Buches ist „Die Erfindung Gottes – Wie die Evolution den Glauben schuf“ – Autor ist Jesse Bering, Jahrgang 1975, Evolutionspsychologe und Direktor des Institute of Cognition and Cultur an der Queen’s University Belfast. Er hat m.E. einen modernen Feuerbach geschrieben – allerdings mit wissenschaftlichen Beweisen, dass „der Glaube“ ein Produkt der Evolution des menschlichen Gehirns sein dürfte.

    Gruß
    Bernie

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  4. Hammurabi / Hammurapi

  5. @Granado

    Schreibfehler sind Dir geschenkt – Ich bleib dabei, die 10 Gebote, die dem Alten Testament einer mythischen Figur namens „Moses“ zugeschrieben wurden, sind nur geklaut.

    Übrigens, es gibt israelische Historiker der säkularen Sorte, die alle biblischen Geschichten als archäologisch nicht belegbar abtun – mit Beweisen.

    Auch dazu hätte ich einen Buchtipp zu liefern:

    Die Autoren heißen Israel Finkelstein / Neil A. Silberman.
    Das Buch trägt den Titel „Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel“ – Inhaltsangabe „[…]Zwei Archäologen erzählen die Geschichte des alten Israel bis etwa 400 v.u.Z. Dabei zeigen die steinernen Zeitzeugen, daß die Bibel eben doch nicht „recht“ hat: weder den Auszug aus Ägypten noch den Tempel König Salomons oder andere bislang als gesichert angenommene in der „Heiligen Schrift“ beschriebene Ereignisse hat es gegeben[…]“

    Eben, wie die Rockband „Die Prinzen“ es einst sangen: „Alles nur geklaut!“

    Amüsierte Grüße
    Bernie

  6. Ergänzung:

    Thorsten Beermann

    Scherzhaft:

    Waren es nicht 15 Gebote, die der mythische “Moses” vom Berg Sinai gebracht haben soll?

    Frei nach Mel Brooks “Mel Brooks – Die verrückte Geschichte der Welt”:

    …Religion macht man am besten fertig, wenn man darüber Karikaturen, lustige Filme – oder Satiren macht – eben die Religiösen auslacht….. (nicht umsonst verstehen streng religiöse Menschen einfach keinen Spaß, wenn es um ein imaginäres Alphamännchen namens Gott geht).

    Mel Brooks ist hier einfach, ebenso wie Monty Python unschlagbar…..

    Als Karikaturist empfehle ich den Comic-Zeichner Ralph König, der auch Mitglied der oben erwähnten Giordano-Bruno-Stiftung ist.

    Sehr amüsierte Grüße
    Bernie

  7. „Gott hat den Menschen erschaffen, weil er vom Affen enttäuscht war. Danach hat er auf weitere Experimente verzichtet.“

    (Mark Twain – US-amerikanischer Schriftsteller und Philosoph, 1835-1910)

    Ich habe mich schon als Kind gefragt, wofür Religion gut ist. Seit 40 Jahren bin ich nun ein ehemaliger „Evangole“ und fühl‘ mich so am Besten.

  8. Ich bin Christ, dem Etikett nach Evangelisch, habe Theologie auf Lehramt studiert und glaube, dass ich mich kritisch genug mit meiner Religion auseinandersetze. Ständig. Ich bin mir dessen bewusst, dass auch viele externe Traditionen und Quellen in der Bibel ihre Spuren hinterlassen haben, dass die Bibel nicht verbalinspiriert sein kann und dass aus dieser Vorlage für meine Religion über die Zeiten hinweg nicht immer nur das Beste, oft sogar Beschämendes erwachsen ist.
    Trotzdem glaube ich. Nach Paul Tillich ist Glaube das ergriffen sein von etwas, was einen Menschen unbedingt angeht. Nun, ich bin offensichtlich ergriffen und zwar vom Glauben an einen Gott den ich noch am ehesten in der Vita und den Worten Jesu wiederfinde. Freilich findet man dessen Werte auch irgendwo anders wieder und wäre ich irgendwo anders geboren stünde an Jesu Stelle vielleicht Buddha, Manitou, Bahaulla oder irgendwer anders. Zeitlich könnte es sogar astrein möglich sein, dass Jesus die Worte Buddhas durchaus bekannt waren.
    Alleine schon aus dieser Möglichkeit heraus und vielen anderen Gründen mehr betrachte ich meinen Glauben auch nicht als exklusiv. Ich stehe anderen Religionen und Philosophien mit Respekt gegenüber und sehe weder Grund aggressiv zu missionieren, noch mich über irgendwessen Weltbild oder Vorstellung zu erheben.
    Gerade hier sehe ich mich allerdings einer ziemlich großen Zahl von Menschen gegenüber die mich als geistig zurückgeblieben ansehen und im permanenten Unrecht wähnen weil ich Anhänger einer Religion bin. Wo ist die Toleranz hier geblieben?
    Natürlich kann man gegen Religion argumentieren, wenn man eben diese als Übel betrachtet. Nur… ist nicht in Wahrheit das Ware Übel das Wesen des Menschen? Homo homini lupus. Und so belatschern wir uns eben gegenseitig weiter und klären uns über die Denkfehler auf, die wir bei den jeweils anderen Gruppen sehen.
    Wird dadurch die Welt bessen? Wird durch Religion die Welt besser? Durch Atheismus? Wohl durch beides nicht! Diese Welt kann nur durch uns besser werden. Dabei können Maßstäbe nicht schaden – egal wo diese nun herstammen! Nur diese als absolut zu betrachten hindert uns dabei.
    Sapere aude! (Diese Botschaft versuche ich auch meinen Schülern und Schülerinnen mitzugeben.)
    Gruß, Björn76

  9. @Björn76

    Dann sind Sie wohl besser als die Theologen Küng, Drewermann, Deschner und Uta Ranke-Heinemann – Was diese Theologen eint? Die sind – zum Glück – nicht mehr so fanatisch „glaubensstark“ wie Sie.

    Ihre üblen Vorurteile gegen religionskritische Menschen kommentiere ich mal lieber nicht, die lass ich diesen Artikel kommentieren:

    „[…]Wovor haben die Gläubigen eigentlich Angst?
    Studie erforschte erstmals Misstrauen und Vorurteile gegenüber nichtreligiösen Menschen[….]“

    Quelle und kompletter, sehr aufschlußreicher Text:

    http://www.wissenrockt.de/2011/12/06/wovor-haben-die-glaubigen-eigentlich-angst-22855

    Amüsierte Grüße
    Bernie

  10. Sehr schön, aber eine kleine Korrektur habe ich: Der Satz mit der Religion, die es braucht, damit gute Menschen böses tun, ist nicht von Sam Harris, sondern von Steven Weinberg.

  11. @bernie
    Fanatisch? Wohl kaum. Wäre das nicht ein Vorurteil gegenüber Menschen wie mir?
    Vorurteile? Nein, eher Alltagserfahrungen. Kann ich vielleicht etwas dafür, dass ich anscheinend eher dem „bashenden“ Typus des Atheisten ausgesetzt bin. Dass es auch einen „netten“ Typus geben muss ist mit schon klar.
    Ängste? Wovor haben Atheisten eigentlich Angst? Man kann den Artikel auch durchaus mit umgekehrtem Vorzeichen schreiben.
    Liebe Grüße,
    Björn76

  12. @Björn76

    Danke für Ihre Antwort – Was meinen Sie eigentlich mit „Alltagserfahrungen“? „Bashenden“ Typus von Atheisten? Was ist den Ihrer Ansicht nach ein „netten“ Typus von Atheist? Atheisten haben eigentlich vor gar nichts Angst, und schon gar nicht vor einem „imaginären Alphamännchen“ namens „Gott“ – Um es mit dem großen dt. Philosophen Feuerbach zu schreiben „….und Mensch schuf Gott…“ (Gott ist ein selbst erschaffenes Hirngespinst der „Gläubigen“ nach dem großen dt. Philosophen Feuerbach)…..

    In diesem Sinne
    schönen, nachdenklichen Abend noch
    Bernie

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  15. Sehr schwierige These. Sicherlich kann man aus einer Rückschau heraus zu Positionen gelangen, dass vieles „Böses“ als „Gut Gemeintes“ aus schwierigen Überzeugungen resultierte. Diese gelten dann für den Rückschauenden als falsch, widerlegt oder unzulänglich. „Religion“ synonym zu machen zu auf bloßem Glauben basierten Handlungsinterpretationen greift aber zu kurz. Metaphysische Letztbegründungen sind in jedem Weltbild ausmachbar. Zugleich ist es – gleich ob diese Letztbegründungen religiös oder areligiös anmuten – philosophisch grundsätzlich unzulässig, aus einem Sein auf ein Sollen zu schließen.

    Vgl. auch Religion, Politik und Partei(programm): Von Glücksempfinden und gesellschaftstragenden Utopien.

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