Mehr Demokratie wagen?

Erst vor wenigen Tagen, am 28. Oktober, jährte sich der Ausspruch dieses Satzes aus der ersten Regierungserklärung von Willy Brandt zum 44. Mal. Auch wenn man durchaus streiten kann, ob und in welchem Umfang Brandt dieser Prämisse gerecht geworden ist oder in seiner Zeit gerecht werden konnte, hallt diese Forderung bis heute nach und scheint sich besonders in der jüngeren Vergangenheit erneut zu verstärken.

Auch in den Kommentarspalten des Spiegelfechters ist immer wieder die Forderung nach mehr direkter Demokratie zu lesen, statt die Bevölkerung in ihrer Teilhabe an den Entscheidungsprozessen auf Wahlen zu beschränken. Die Rolle des „Stimmviehs“, das alle vier Jahre eine Regierung bestimmen dürfte, deren Zusammensetzung an der tatsächlichen Politik fast nichts ändere, wird weit links wie weit rechts nahezu wortgleich kritisiert.

Akut wird diese Fragestellung nun im Rahmen der sich abzeichnenden Großen Koalition. Forderungen, die noch zu bildende neue Bundesregierung möge ihre große Mehrheit im Bundestag nutzen, um mehr direkt-demokratische Elemente in der Verfassung zu verankern, fordert aktuell etwa Strömungen in der SPD oder eine Petition auf der Plattform von Campact. Grüne und Linke wünschen sich seit Längerem, dass bindende Volksentscheide und Verfahren, diese Abstimmungen auch gegen den Willen der Regierung erzwingen zu können, in die Verfassung aufgenommen werden können.

Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Umsetzung des Wählerwillens hinge weit weniger als heute von der Zusammensetzung der Parlamente und der Regierungen, egal welcher Verwaltungsebene, ab. Niemand könnte wie bisher behaupten, mit der Wahl und der gebildeten Koalition sei jede Entscheidung der Regierung demokratisch legitimiert und man müsse sich damit abfinden. Ein Regieren über die Köpfe der Bürger würde schwerer und es gäbe die Möglichkeit, auch solche Themen auf die Tagesordnung zu bringen, die zum jeweiligen Zeitpunkt von niemandem im Parlament vertreten werden.

Allerdings hat dieser Weg auch nicht zu unterschätzende Nachteile. Mehr direkte Eingriffsmöglichkeiten auf Entscheidungen verlangen nach politisch interessierten und gut informierten Bürger, die willens und in der Lage sind, sich dieser Verantwortung zu stellen. Ein Blick auf die aktuelle Situation in den Medien oder wahlweise auf die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl könnten an beiden Punkten Zweifel wecken. Wurde doch die Partei der Kandidatin mit deutlichem Abstand gewählt, die sich inhaltlich am wenigsten festgelegt hat.

Auch die letzten auf Landesebene abgehaltenen Volksentscheide geben eher Anlass zu Misstrauen. Die Abstimmung über die Schulreform in Hamburg im Juli 2010 und der Urnengang betreffend Stuttgart 21 im November 2011 zeigen, wie schnell eine Seite die Oberhand gewinnen kann, wenn sie entweder die publizistische Lesart bestimmt oder über deutlich mehr Ressourcen verfügt.
Im ersten Fall konnte eine Initiative mit dem allein schon Tatsachen verfälschenden Namen „Wir wollen lernen“ ihre Sicht auf die Debatte durchdrücken, diffuse Ängste zu schüren und zu bündeln, weil sich die Regierung zur Neutralität verpflichtet fühlte. Im zweiten Fall war die wirtschaftliche Übermacht der Bahn und der Bundesbehörden, die mit zum Großteil heute widerlegten Falschbehauptungen mit den begrenzen finanziellen Mitteln der Gegner nicht ins Wanken zu bringen. In beiden Fällen erwiesen sie die Medien nur in wenigen Einzelfällen als Korrektiv, während sich die von den Grünen geführte Regierung in die neutrale Ecke drängen lies.
Den gegenteiligen Weg ging man in den letzten Tagen in Bayern, wo Landesregierung und SPD-Mehrheit in München ganz offen für eine Bewerbung um die olympischen Winterspiele im Jahr 2022 einsetzte. Das ging so weit, dass in den offiziellen Wahlbriefen, die an jeden Haushalt in der Stadt gingen, die Argumente der Gegner schlicht nicht vorkamen.

Auch ein Blick ins benachbarte Ausland hinterlässt eher gemischte Gefühle. Zwar steht die Schweiz momentan möglicherweise kurz davon, durch Volksentscheide nicht nur einem Mindestlohn, sondern auch einen Maximallohn gesetzlich festzuschreiben. Gleichzeitig hat aber auch eine gesetzliche Reduzierung der europäischen Freizügigkeit entgegen der Schengen-Regularien eine große Chance, eine Mehrheit zu finden. Das Verbot vom Bau von Minaretten im Jahr 2009 wurde in rechten Kreisen europaweit gefeiert.

Fallsstricke gibt es also zuhauf. Vorurteile und Ängste können von Regierungen, als auch gerade gegen Regierungen instrumentalisiert werden – die berühmten „Denkzettel“. Wirtschaftliche potente Interessengruppen werden auch hier immer einen großen Vorteil gegenüber ressourcenärmeren Fraktionen haben. Dazu kommt die Neigung, ausschließlich af den (scheinbaren) eigenen Vorteil zu schauen, statt wenigstens zu versuchen das Für und Wider für die gesamte Gesellschaft zu betrachten, und selbst dabei keine langfristige Perspektive einzunehmen.

Wäre es nicht eventuell sinnvoller, wenn sich die, die sich tatsächlich mit politischen Fragestellungen und ihren Hintergründen und Mechanismen befassen, in Zukunft stärker engagieren? Brauchen wir nicht eher einen weiteren „Marsch durch die Institutionen“?

Polemisch könnte man dieses Thema auf zwei Fragen verengen:

1. Werden die selben Menschen, die vor wenigen Wochen Angela Merkel wieder gewählt haben, mit der Einführung direkter demokratischer Elemente plötzlich zu interessierten und gut informierten Wählern mausern, die nach Inhalten entscheiden und nicht, weil Mutti ihnen ein wohliges Gefühl vermittelt?

2. Und dann war da noch ein Satz, der in den Tagen vor der Wahl in den sozialen Netzwerken kursierte: „Es dürfen bei der Bundestagswahl auch die Menschen bestimmen, für die auf Pizzakartons der Satz ’Folie vor Verzehr entfernen’ steht.“ Wollen wir diese Menschen wirklich regelmäßig konkrete Entscheidungen treffen lassen?

Im Original veröffentlich beim Spiegelfechter.

2 Antworten zu “Mehr Demokratie wagen?

  1. Ich bin bei Berger gesperrt. (Das soll auch so bleiben, denn ich mag ihn auch nicht.) Schade finde ich nur manchmal, dass ich auch bei Gastautoren nicht kommentieren darf.

    Deshalb möchte ich hier eine kleine Anmerkung machen: Warum hast Du das gestrige, mithin aktuelle positive Beispiel der Abstimmung der Bayern über die olymp. Winterspiele 2022 nicht in Deinem Text berücksichtigt? Sicher ist dieses Ergebnis nicht dem Enthusiasmus der Bayern zur direkten Demokratie geschuldet, sondern mehr auf deren Liebe zur Heimat, ihrem Wertkonservatismus und ihrer teilweisen Abhängigkeit vom (sanften) Tourismus durch Stammgäste geschuldet. Hervorzuheben ist aber die besonders gute PR- und Informationsarbeit von Nolympia, die bewiesen hat, wie wichtig die Aufklärung über Hintergründe, Interessenlagen und Folgeschäden(-kosten) ist.

    Erfreulich ist das Ergebnis für mich auch deshalb, weil es verhindert, dass jenseits der normalen, wachstumsbedingten schleichenden Zerstörung der Landschaften in Bayern die Winterspiele 2022 in Bezug auf Landschaftsverwüstung in den betroffenen Regionen (Werdenfelser Land, Nationalpark Königsee usw.) den Turbolader angeworfen wird.

    • Als ich den Text verfasst habe, waren die Stimmen in Bayern noch nicht ausgezählt. Ich bin aber auch positiv überrascht, dass trotz der kleinen Tricks und Kniffe der Befürworter bei Land und Kommune keine Mehrheit für die Spiele – zu den aktuellen Konditionen – erreicht wurde und das in der Deutlichkeit.

      Damit hätte ich nicht gerechnet.

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